- Auf dem OMR-Festival am Dienstag ist der Influencer Jeremy Fragrance aufgetreten.
- „Ich könnte pro Nacht fünf Mädels bumsen“, protzte der YouTube-Star – jetzt wird ihm Sexismus vorgeworfen.
- Absurde Doppelmoral, meint unsere Autorin.
Er ist ein Mann, dem ich im Club aus dem Weg gehen würde. Weißer Anzug, weiße Hose, weiße Sneaker, die Haare zurückgegelt, das Hemd einen Knopf zu weit aufgeknöpft, damit man seine goldene Jesuskette sieht. „Ich könnte pro Nacht fünf Mädels bumsen“, sagte Influencer Jeremy Fragrance am Dienstag auf der Bühne des OMR-Festivals (einer Messe für digitales Marketing) in Hamburg – jetzt wird ihm Sexismus vorgeworfen. Kooperationspartner Aldi Nord hat sich bereits von dem Social-Media-Star distanziert.
Zunächst hielt sich mein Mitleid in Grenzen – ich konnte Fragrance noch nie leiden. Der Mann, der immer so wirkt, als hätte er gerade mindestens eine Line Koks gezogen, wurde mir schon oft genug in meine Timeline gespielt. Die Videos, in denen sich der Parfüm-Influencer oberkörperfrei mit verschiedenen Düften voll dieselt, dabei tanzt, erst seine Muckies, dann seine Zähne zeigt, schließlich Liegestütze macht, sich bis auf die Unterhose auszieht und „Power!“ in die Kamera schreit – haben mich irgendwie nie direkt angezogen.
Flagrantes Aussagen werden auf den Kopf gestellt
Doch wenn heutzutage einem medial bekannten Mann Sexismus vorgeworfen wird, sollte man hellhörig werden. Auch bei Bohlen und Schweiger war bekanntlich an den Sexismus-Anschuldigungen letzten Endes nichts dran gewesen. Ich habe mir also die diskutieren zwanzig Minuten Frangrance-Explosion auf der OMR angeschaut – und bin seitdem auf jeden Fall wach.
„Kraft, Power, Streeeeength“, brüllt der Star-TikToker als er die Messebühne betritt. Und erklärt kurz darauf im Interview mit dem Moderator der Veranstaltung, was er damit meint. „Ich habe ein ziemlich krasses Mindset“, poltert der 34-Jährige. Worin das bestehe? Er sei „ethisch sehr geil unterwegs“. Weil dem Zuschauer wohl nicht direkt klar ist, womit er diese ethische Geilheit begründet, erläutert Fragrance: „Ich könnte es mir sehr leicht machen. Ich könnte pro Tag fünf Mädels bumsen. Ich könnte euch alle verarschen.“ Da er sich aber entschieden habe, „ethisch geil zu leben“, mache er das nicht.
Ja, Sie haben richtig gehört. Fragrance hat tatsächlich genau das Gegenteil von dem gesagt, was ihm vorgeworfen wird. Er hat eben nicht erklärt, dass es sein Ding sei, jeden Tag fünf Mädels zu bumsen, sondern dass er genau das aus moralischen Gründen nicht mache. Meiner Meinung nach übrigens der eigentliche Skandal – wenn jetzt auch noch die Proleten Enthaltsamkeit predigen, weiß ich nun wirklich nicht, woher in Deutschland noch Kinder kommen sollen.
Doch der Medienlandschaft ist das egal. „Influencer Jeremy Fragrance irritiert mit verstörendem und sexistischem Auftritt“, schreibt der Tagesspiegel am Freitag. T-online, Business Insider und die Rheinische Post berichten mit ähnlichen Schlagzeilen. Die WirtschaftsWoche ging so weit, dass sie bei Aldi Nord ein Statement zu den Äußerungen von Fragrance einholte. Die Supermarktkette hatte zuletzt mehrere Werbevideos mit dem Influencer herausgebracht, die tatsächlich ironische Meisterwerke sind, die sich jeder mal anschauen sollte.
Ein Sprecher von Aldi Nord distanzierte sich daraufhin kurzerhand von dem Medienstar, der ihnen zuletzt wohl mehr Aufmerksamkeit in den Sozialen Medien gebracht hat, als der Supermarkt je hätte erwarten können. Die Äußerungen des Influencers auf der ORM-Messe seien „in keinerlei Hinsicht mit den Werten und Haltungen der Unternehmensgruppe vereinbar“, hieß es. Zudem erläuterte der Sprecher, dass die Zusammenarbeit mit ihm eine „einmalige Kooperation“ gewesen sei. „Weitere Aktionen waren und sind nicht geplant“.
Nun kann man ja von dem selbsternannten Parfüm-Model halten, was man will. Fakt ist jedoch, dass Jeremy Fragrance sehr erfolgreich in dem ist, was er macht. Seine Videos in den Sozialen Medien werden täglich von mehreren Millionen Leuten geguckt, mit Sky produziert er gerade eine Reality-Dokumentation über sich selbst, er hat einen eigenen Party-Song herausgebracht, der dermaßen Beat-lastig ist, dass er mit Sicherheit jetzt schon in vielen Proll-Clubs gespielt wird – nicht zu vergessen, die zahlreichen Produkte von Partnerfirmen, die Frangrance online bewirbt und ihm sicher ordentlich Provision einbringen.
Selbst wenn er es gesagt hätte: Was wäre daran so schlimm?
Kurz: Fragrance hat sehr viele Anhänger. Es ist erstaunlich, wie viele Medienfirmen dreist darauf verzichten, die Vorwürfe gegen Fragrance erst einmal zu überprüfen, bevor sie sie übernehmen – und damit Millionen Fragrance-Follower gegen sich aufbringen. Zwanzig Minuten Video schauen kann man einem Journalisten heutzutage offenbar nicht mehr zutrauen.
Davon abgesehen: Selbst wenn der Jeremy tatsächlich gesagt hätte, dass er gern fünf Frauen am Tag vögelt – was wäre so schlimm daran gewesen? Wurde nicht Dieter Bohlen genau dafür medial zerrissen, dass er das abwechslungsreiche Sexleben der „Deutschland sucht den Superstar“-Kandidatin Jill Lange kommentierte? Damals haben alle geschrien: Eine Frau darf mit so viel Männern schlafen, wie sie will! Das hatte Bohlen zwar nie angezweifelt, doch das ist eine andere Geschichte. Jedenfalls: Sollte das für Männer nicht genauso gelten?
Ich muss ja gestehen: Meine zwanzig Minuten mit Jeremy Fragrance haben dazu geführt, dass ich den Power-Flummi nicht mehr ganz so unerträglich finde. Hinter dem Sammelsurium an skurrilen Gesten, Ausrufen und Selbstoptimierungsmantras stecken nämlich tatsächlich ganz interessante Gedanken. Beispiel: Unser Auftreten bestimmt, wie mit uns umgegangen wird. Wer als depressiver Opfertyp durch den Tag geht, glaubt nicht nur selbst, dass er nichts kann – er wird auch so behandelt werden. Wer jedoch selbstbewusst auftritt, Stärke („Power!“) ausstrahlt und bestrebt ist, sich in den Bereichen zu verbessern, die für sein Leben entscheidend sind, der wird auch erfolgreich sein. Alles eine Frage des „Mindsets“ eben. Jawoll, Herr Jeremy!