Heute jährt sich das „rassistische Attentat“ von Hanau – so heißt es in Politik und Medien. Doch Tobias R. war kein organisierter Rechts-Terrorist, sondern Psychotiker. Das hält Linke jedoch nicht auf seine Bluttat zu instrumentalisieren.

Vor genau drei Jahren, am 19. Februar 2020, tötete der 43-jährige Tobias Rathjen in Hanau zehn unschuldige Menschen und nahm sich anschließend selbst das Leben. Neun seiner Opfer hatten einen Migrationshintergrund, das zehnte war seine eigene Mutter – die in den vielen Kondelenz-Ansprachen von Politikern aber so gut wie nie Erwähnung findet. Wohl, weil sie die Mutter eines vermeintlichen Rechts-Terroristen war – denn das war Gedanke, der sich nach der Bluttat aufdrängte. Doch obwohl schon kurz nach der Tat klar wurde, dass Tobias Rathjen keine Verbindungen zum organisierten Rechtsextremismus hatte, nur vordergründig ideologiegetrieben war und unter einer schweren psychischen Störung mit völligem Realitätsverlust litt, hält sich bis heute das Narrativ des „rassistischen Anschlags“.
Hanau wird von Politik und Medien so seit drei Jahren als Beweis für die „größte extremistische Bedrohung unserer Demokratie“ – wie Nancy Faeser es ausdrückte – und eines strukturellen Rassismusproblems angeführt. Auf Demonstrationen hieß es in den letzten Jahren gar, die AfD habe in Hanau mitgeschossen – doch damit wird das Gedenken missbraucht. Die schreckliche Bluttat wird von Linken für ihren Kampf gegen Rechts instrumentalisiert, das eigentliche Problem völlig verkannt.
Neun Tote in sechs Minuten
Tobias Rathjen brauchte am Abend des 19. Februar nur sechs Minuten um neun Menschen brutal zu ermorden. Die ersten Schüsse feuerte Rathjen in der „Midnight Shisha Bar“ am Heumarkt in der Innenstadt ab – der 29-jährige Sedat Gürbüz, der 34-jährige Fatih Saraçoğlu und der 33-jährige Kaloyan Velkov sterben. Danach fuhr der Mann in seinem Auto weiter in den nahegelegenen Stadtteil Kesselstadt, erschoss dort Gökhan Gültekin (37), Said Nesar Hashemi (21), Mercedes Kierpacz (35), Hamza Kurtović (22) und Ferhat Unvar (23) in der „Kiosk Arena Sports Bar“. Sein letztes Opfer war der 22-jährigen Vili Viorel Păun. Păun soll Rathjen im Auto verfolgt und versucht haben, ihn aufzuhalten – dafür bezahlte er mit seinem Leben. Rathjen erschoss den jungen Mann durch die Windschutzscheibe seines Autos. Danach fuhr Rathjen ungehindert nach Hause, tötete seine 72-jährige, bettlägerige Mutter und erschoss sich anschließend selbst.
Rathjens paranoide Wahnvorstellungen
Nur Stunden nach der Tat wurde bekannt, dass Rathjen vor seinem Blutrausch ein „Bekenner-Video“ im Internet veröffentlicht hatte, in dem er mit starrem Blick, absoluter Ruhe und Härte im Gesicht über Geheimverschwörungen sprach, von denen das amerikanische Volk nichts ahnen würde – von unsichtbaren, geheimen Gesellschaften. In dem Video und einem völlig abstrusen Manifest, das Tobias Rathjen auf seiner – vor Verschwörungs-Theorien nur so triefenden – Internet-Seite veröffentlicht hatte, warnte er vor unterirdischen militärischen Anlagen, über die der Satan selbst herrsche und in denen Kinder gefoltert und ermordet werden.
Rathjen glaubte daran, dass Jürgen Klopp und Donald Trump ihm seine Ideen gestohlen hätten, entwickelte Pläne zur Neuordnung der Welt und hielt sich selbst für den Auserwählten: einen Menschen mit ganz besonderen Kenntnissen und ungewöhnlichen Fähigkeiten, mit denen er das Weltgeschehen auf nichtphysischem Wege – heißt: telepathisch – lenken kann.
Nachdem ich das Bekenner-Video gesehen und das völlig abstruse Manifest gelesen hatte, wurde mir sofort klar, dass der Mann, der zum „gerechten Kampf“ aufrief und dafür plädierte ganze Länder und Bevölkerungsgruppen auszulöschen, kein Terrorist war, sondern an einer psychotischen Erkrankung gelitten haben muss – genauer gesagt: an einer paranoiden Schizophrenie. Eine These, die im November 2020 durch ein von der Bundestaatsanwaltschaft in Auftrag gegebenes psychiatrisches Fachgutachten bestätigt wurde.
Hanau ist kein Einzelfall
Insgesamt elf Menschen mussten wegen einer Erkrankung sterben, mit der sich niemand beschäftigen möchte – und dass, obwohl Schizophrenien keine seltenen psychischen Störungen sind. Im Gegenteil: Etwa ein Prozent der Weltbevölkerung erkrankt im Laufe ihres Lebens. Zwar sind die meisten Schizophrenen weitestgehend harmlos und können unter der Einnahme von Medikamenten ein den Umständen entsprechend normales Leben führen, es gibt aber einen kleinen und trotzdem sehr bedeutenden Teil der Erkrankten, die ein hohes Risiko zu gewalttätigem, selbstverletzendem und aggressivem Verhalten haben. Das sind in allererster Linie paranoid Schizophrene wie Rathjen, die an Verfolgungswahn, Halluzinationen, Bedrohungserleben und einer daraus resultierenden strikten Behandlungsuneinsichtigkeit leiden – die Realität und Wahn nicht mehr auseinanderhalten können.
Diese Menschen bleiben aufgrund der gesetzlichen Regelungen, die es seit einigen Jahrzehnten zunehmend unmöglich machen, jemanden gegen seinen Willen zu behandeln, über Jahre ohne medizinische und psychiatrische Versorgung und rutschen so immer tiefer in die Verwahrlosung und ihren Wahn, sodass sie mit der Zeit immer behandlungsresistenter werden. Ich habe acht Jahre lang in einem Berliner Betreuungsbüro gearbeitet und in dieser Zeit viele solcher traurigen Schicksale miterleben müssen – sie haben mir gezeigt, dass Demonstranten und Politiker in einem Punkt recht haben: Hanau ist kein Einzelfall.
Aliens, CIA oder der Satan höchst persönlich
Wir hatten über die Jahre zahllose Fälle von Psychotikern in Betreuung, die jeglichen Bezug zur Realität verloren hatten. Die Wahninhalte dieser Menschen sind sehr verschieden, folgen gleichzeitig aber demselben Muster: Die Halluzinationen und Verfolgungsgefühle richten sich immer auf ein Objekt mit akutem Bedrohungsgefühl, vor dem sich der Erkrankte schützen will – das können CIA- oder Stasi-Agenten sein, Aliens, die Mafia, die katholische Kirche, die Nationalsozialisten oder der Teufel höchst selbst. Einer unserer Klienten fühlte sich ständig von der italienischen Mafia verfolgt, bildete sich später ein Mussolini, Hitler und George Clooney zu sein, bevor er seine eigene Mutter mit zahllosen Messerstichen tötete. Ein Klient glaubte, dass seine ganze Familie von der türkischen Mafia bedroht werde und war gleichzeitig überzeugt, dass der Playboy-Chef Hugh Haffner ihn persönlich beauftragt hatte, die Polizei bei ihrer Arbeit gegen das Böse dieser Welt zu unterstützen. In diesem Wahn reiste er quer durch Deutschland und versucht vehement in ein Hotel einzudringen, dass ihm seiner Meinung nach gehörte.
Diese Art von Größenwahn – so wie ihn auch Tobias Rathjen hatte – ist ein häufiges Merkmal in den Gedankenkonstrukten Schizophrener. Wie Rathjen fühlte sich zum Beispiel auch ein weiterer unserer Klienten als der Auserwählte. Auch er meinte besondere Fähigkeiten zu haben, telepathisch mit „denen auf der anderen Seite“ kommunizieren zu können, kein menschliches Wesen und zu Höherem berufen zu sein – er war fest davon überzeugt, dass sich in ihm das Christentum, das Judentum und der Islam vereinigen würden und er so der Einzige sei, der Frieden über die Welt bringen könne. Er setzte seine Medikamente nicht nur deshalb ab, weil er glaubte in der Spritze sei eine zweite Person enthalten, die in ihn eindringen würde und ihm von innen den Hals umdreht, sondern floh auch aus dem Krankenhaus, weil die Ärzte ihm nach seinem Blut trachteten – wegen seiner reinen Erbfolge.
Er und etliche weitere Klienten teilten aber noch weiter Krankheitsmerkmale mit Rathjen. Viele sind fest davon überzeugt, dass sie von Geheimdiensten wie dem BND oder der NSA überwacht werden. Der Betreute, der sich für den Auserwählten hielt, glaubte zum Beispiel, dass man ihm einen Chip ins Gehirn gepflanzt hatte und versuchte sich deshalb regelmäßig mit Alufolie in seinem ganzen Zimmer gegen die Strahlen und Abhörgeräte der Geheimdienste abzuschirmen. Tobias Rathjen war ebenfalls überzeugt davon, durch die Wand und durch die Steckdose abgehört, belauscht und gefilmt zu werden.
Für Schizophrene ist die Bedrohung real
So absurd diese Gedanken für einen gesunden Menschen klingen mögen, so real sind sie für den Kranken – auch wenn es schwerfällt, sich das vorzustellen. Das sind Menschen, die wirklich Todesangst vor der „Seele“ oder den „schwarzen Männern“ haben, die hinter ihnen laufen. Die tief verzweifelt sind, weil ihnen jeder nach dem Leben trachtet – ihr Nachbar, der Arzt, der Betreuer und der als Postbote getarnte Agent im Vorgarten. Alle wollen sie verstrahlen, vergiften, ermorden. Wir hatten Klienten, die uns in wenigen Minuten 70 E-Mails mit dem Hilfeschrei schickten, dass man sie vergasen wolle. Menschen, die Reinigungsmittel tranken, weil sie überzeugt waren, dass jemand sie absichtlich verunreinigt hatte. Andere, die lebenserhaltende Medikamente absetzten, weil sie glaubten, dass darin Gift sei.
Viele Schizophrene tuen sich oder anderen so schwerste Gewalt an, weil die Stimmen in ihrem Kopf sie dazu gezwungen haben. Diese akustischen Halluzinationen – von denen auch Rathjen in seinem Manifest berichtete – sind für Betroffene so real, wie alle Dinge des alltäglichen Lebens. Die Qualen, die diese Stimmen bereiten, sind so real wie der Schmerz, wenn man sich an der Tischkante stößt. Sie beschimpfen die Kranken und befehlen ihnen grausame Dinge, solange bis sie sich nicht mehr wehren können. Einem unserer Klienten wurde von einer weiblichen Stimme befohlen sexuelle Handlungen vorzunehmen. Eine ältere Frau wurde von ihren Stimmen aufgefordert Suizid zu begehen – kurze Zeit später sagte sie zu ihren Pflegern sie hole sich ein Stück Kuchen und sprang dann unvermittelt aus dem Fenster im dritten Stock.
Wieder ein anderer Klient hatte den Teufel im Kopf. Er befahl ihm, sich eine Waffe zu besorgen, in die Kirche zu gehen und alle anwesenden zu erschießen. Dagegen konnte sich der junge Mann, wie er später vor Gericht berichtete, wehren – als die Stimme ihm befahl eine Frau zu erstechen, gelang es ihm zunächst immernoch. Doch dann begegnete er der Frau und ihrem Freund am selben Tag ein zweites Mal, die Stimmen übermannten ihn und er stach zu – sie überlebte nur durch großes Glück.
Hanau ist die Folge staatlicher Untätigkeit
Wie so etwas möglich ist? Warum offensichtlich eigen- und fremdgefährdende Menschen nicht in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht werden? Weil die Gesetzeslage, politisch gewollt, fatal ist. Polizei und Gesundheitsbehörden dürfen im Prinzip erst eingreifen, wenn es schon zu spät ist – erst wenn jemand ernsthaft verletzt oder sogar getötet wurde. Und genauso lief es auch bei Tobias Rathjen.
Rathjen wurde bereits im Jahre 2002 kurzzeitig wegen einer Psychose aus dem Schizophrenen Formenkreis zwangsuntergebracht, nachdem er dem Polizeipräsidium Oberfranken von seiner „psychischen Vergewaltigung“ und seinen Abhör-Verfolgungsgedanken berichtet hatte. Als man ihn in das Krankenhaus brachte, griff er einen Polizisten an und versuchte zu fliehen – trotzdem war er noch am selben Tag wieder frei. Sein wahrscheinlich ebenfalls psychotischer Vater (mehr dazu) engagierte einen Anwalt und ließ seinen Sohn aus der Unterbringung holen.
Im November 2019 stellte Rathjen Strafanzeige bei der General-Bundesanwaltschaft, in der auch ein beinah identisches Exemplar des später veröffentlichte Manifest enthalten war. Konsequenzen hatte das für Rathjen jedoch nicht. Es wurde weder eine Unterbringung veranlasst, noch wurden die Unterlagen an den Sozialpsychiatrischen Dienst weitergeleitet – aus Datenschutzgründen. Dieser hätte zumindest theoretisch eine Unterbringung veranlassen oder den Entzug der Waffenlizenz, die Rathjen besaß, fordern können.
Die Bluttat hätte verhindert werden können
Um Bluttaten wie in Hanau zu verhindern, bräuchte es eine Gesetzesanpassung, die Ärzten, Betreuern und der Polizei mehr Spielraum im Umgang mit eigen- und fremdgefährdenden Psychotikern einräumt. Aktuell werde die allermeisten von ihnen erst mit Hilfe der Feuerwehr und Polizei nach PsychKG (dem Gesetz für psychisch Kranke) ins Krankenhaus gebracht, nachdem sie jemanden massiv bedroht, angegriffen oder ihr eigenes Leben gefährdet haben – und auch dann werden sie häufig sehr schnell wieder entlassen. Im Zweifel entscheidet man immer für die vermeintliche Freiheit des Kranken. Doch damit hält man ihn in seiner Psychose gefangen, nimmt in Kauf das er verwahrlost und chronifiziert. Man schadet ihm und gefährdet andere.
Doch darüber möchte niemand sprechen. Die Debatte über Psychotiker ist in Deutschland ein Tabu, weil Zwangseinweisungen und -behandlungen Assoziationen in dunkle Kapitel der Geschichte auslösen. Und ja, es ist auch kein angenehmes Thema, aber es ist dennoch notwendig. Die Bedrohung ist so real wie alltäglich – sie steht der politisch motivierten kaum mehr nach. Der Staat muss handeln, nur so können die Betroffenen vor sich selbst geschützt werden. Und nur so können Gewalttaten wie in Hanau, Würzburg und Berlin verhindert werden. Alles andere ist politisch gewollte unterlassene Hilfeleistung – und: eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit.
Statt sich das einzugestehen und an Lösungen zu arbeiten, wird der Tod von zehn unschuldigen Menschen von Politik und Medien skrupellos für eine linke Ideologie instrumentalisiert.