- Die Gewalt der Jahrtausendwelle schien vorbei – und der 1. Mai halbwegs befriedet.
- Auf den 1. Mai-Demos der letzten Jahre war vor allem israelbezogene Antisemitismus rasant angestiegen.
- Jetzt plant man die Mobilisierung unter Migranten – und die Rückkehr der Gewalt.
Seit dem 1. Mai 1987 wird in Berlin am „Kampftag der Arbeit“ traditionell die ganze Stadt ins Chaos gestürzt: Linksextreme zünden Autos an, werfen Steine auf Läden und Wohnhäuser und liefern sich wilde Straßenschlachten mit der Polizei. So ging es in Kreuzberg jedes Jahr, bis Anwohner, Gewerbetreibende und Vereine im Jahr 2003 das erste „MyFest“ ins Leben riefen – damit die Leute Feiern statt Randalieren. Über die Jahre wurde das MyFest vom kleinen, linken Kinderfest – auf dem ich aus pädagogischen Gründen Säcke voller Kaffee-Bohnen durch die Gegend schleppen musste – zu einer Art Festival mit tausenden Teilnehmern und die revolutionäre Mai-Demo tatsächlich immer friedlicher. Doch dann kam Corona.
Ein Überblick über die letzten Jahre
2020: 350 Festnahmen, 18 verletzte Polizisten trotz Corona
Alle Veranstaltungen wurden ab- und Demos untersagt – trotzdem versammelten sich tausende Menschen, die die 5.000 Polizisten mit Müh und Not davon abhalten konnten einen großen Demonstrationszug zu bilden. Der Schwarze-Block, der jedes Jahr die große, gewalttätige „Revolutionäre 1. Mai-Demo” anführt, musste also auf seinen großen Auftritt verzichten. Es blieb damit verhältnismäßig ruhig – aber nicht gewaltfrei. Die Polizei leitete damals 120 Ermittlungsverfahren ein, etwas mehr als 350 Personen wurden vorläufig festgenommen oder deren Personalien aufgenommen. In der Nacht wurden 18 Beamte durch Rangeleien und Flaschenwürfe verletzt.
2021: 354 Festnahmen, 93 verletzte Polizisten
Auch im nächsten Jahr blieb das MyFest verboten, Demos waren aber wieder erlaubt – es gab also keinen Ausgleich, dafür besonders viel Wut. Wut und Frustration über die Lockdowns und die Räumung mehrerer linker besetzter Räume. Außerdem machte in diesem Jahr zum ersten Mal ein neues Bündnis migrantischer Gruppen unter Führung des damals relativ jungen Antifa-Ablegers „Migrantifa” mit – von Migranten für Migranten gegen den Kapitalismus.
Die Gewalt eskalierte. Die Szenen, die sich an diesem Tag abspielten, erinnerten schwer an die Zeit vor und kurz nach der Jahrtausendwende. Die Polizei wurde mit Böllern, Flaschen und Steinen beworfen, während auf der Straße brennende Barrikaden errichtet wurden. Als die Beamten mit Wasserwerfer versuchten die riesigen Feuer zu löschen, wurden sie von Extremisten angegriffen. Am Ende gab es mehr als 354 Festnahmen, über 93 verletzte Polizisten und zahllose ausgebrannte Autos, Fahrräder und Roller.
2022: 74 Festnahmen, 29 verletzte Polizisten
2022 blieb der Tag, auch ohne das MyFest, „weitgehend friedlich“ – das sagte Polizeipräsidentin Babara Slowik bei einer Pressekonferenz am frühen Abend. Doch noch während sie vor den Journalisten die Polizei-Strategie lobte, eskalierte die Lage am Endpunkt der „Revolutionären 1. Mai-Demo“ am Oranienplatz in Kreuzberg. Linksextremisten aus dem schwarzen Block warfen Böller, Farbbeutel, Steine und Flaschen auf die Beamten, die die Situation nicht mehr unter Kontrolle hatten. Es kam zu Tumulten und gewalttätigen Ausschreitungen – der ganze Platz war in einen Nebel aus Pfefferspray und Bengalo-Rauch gehüllt. Am Ende wurden 74 Menschen festgenommen, es gab 123 Ermittlungsverfahren und 29 verletzte Polizisten.
Die Polizei konnte sich die Kontrolle nach dem Gewaltausbruch verhältnismäßig schnell wieder zurückerobern und die Zahl der Verletzten blieb ebenfalls überschaubar, doch das anschließende, äußerst positive Framing von Polizei und Medien hatte trotzdem wenig mit der Realität zu tun. Es hieß, das sei der friedlichste erste Mai „seit vielen Jahren“ oder, wie die Polizei twitterte, „seit Jahrzehnten“ gewesen – doch das ist schlichtweg falsch.
Die Jahrtausendwende: brennende Straßen
Ich bin in Berlin-Kreuzberg geboren und aufgewachsen und durfte den ersten Mai von Kleinauf hautnah miterleben. Und ja, wenn man den Mai 2022 mit denen aus meiner Kindheit vergleicht, hat die Polizei recht: Gegen die Ausschreitungen um die Jahrtausendwende waren die Tumulte am Oranienplatz fast schon ein Kindergeburtstag. Damals wusste jedes Kind und jeder Erwachsene, das man um 18 Uhr Zuhause sein musste, weil dann die Straßen brannten – und das taten sie wirklich. Jeder Kreuzberger, der so fahrlässig war, sein Auto nicht irgendwo außerhalb in Sicherheit zu bringen, riskierte am nächsten Morgen keines mehr zu haben.
Ich kann mich genau daran erinnern, wie ganze Straßenabschnitte lichterloh in Flammen standen, wie Autonome und Polizei gegeneinander aufmarschierten und wie Steine bis in den dritten Stock durch die Fenster von Wohnhäusern flogen – zum Beispiel direkt ins Wohnzimmer einer Freundin von mir, die mit ihrem Bruder grade vor dem Fernseher saß, um sich von dem Geschrei und dem Krachen von Feuerwehrkskörpern abzulenken. Die Scherben flogen ihnen direkt entgegen.
Ich kann mich daran genauso bildlich erinnern, wie an das Weinen einer andere Freundin von mir, weil ihr Liebelingskuscheltier im Auto ihres Vaters geblieben war – das stand völlig zerstört und auf dem Kopf, genau in der Kampflinie zwischen und Polizei und Extremisten. Es gab Bilder von Autonomen die Bengalos auf dem Auto zündeten in den Nachrichten, davon wie sie immer wieder versuchten es in Brand zu setzen.
Ich selbst kauerte damals schon tagsüber hinter heruntergelassenen Rolläden in der Wohnung meines Vaters, direkt am Oranienplatz – dem traditionellen Endpunkt der „Revolutionären 1.Mai-Demo“. Ich hatte jedes Jahr panische Angst und hielt mir die Ohren zu, damit ich das Gegröle, Krachen und die Sirenen nicht hören musste.
Friedlich? Nur wenn man über Antisemitismus hinwegsieht
So große Angst mussten Anwohner 2022 nicht mehr haben – einige verloren aber trotzdem ihre Autos, es gab trotzdem Festnahmen, Vandalismus und Verletzte. Und zwar viel mehr als in den Jahren, in denen das „MyFest“ Kreuzberg in eine riesige – ziemlich ätzende, aber dafür weitgehend friedliche – Partymeile verwandelt hatte. 2022 kam außerdem eine neue Dimension dazu – etwas, das von der Polizei und den Medien völlig heruntergespielt wurde: Der massive Antisemitismus auf der Mai-Demo.
Schon als sich die Demo an ihrem Startpunkt formiert hatte, prägten Palästina-Flaggen das Bild. Auf Einladung der „Migrantifa“ hatten sich zahlreiche Pro-Palästinensische Gruppen dem „Internationalistischen“-Block angeschlossen und brüllten ungehindert ihren Hass auf Israel in die Gegend. Es wehten „Samidoun“-Flaggen – die, einer BDS-Organisation, die der PFLP nahesteht, welche von Israel als Terrororganisation eingestuft wurde. Und das war nicht alles: Es gab Plakate mit Aufschriften wie „Intifada until Apartheid fails“, „Freiheit für Palästina“ und Banner, die die Freilassung von Georges Abdallah forderten – einem PFLP-Mitglied, das als Anführer der „Libanesischen Revolutionären bewaffneten Fraktion“ (FARL) im Jahr 1987 wegen Beihilfe zum Mord an einem israelischen Diplomaten zu lebenslanger Haft verurteilt wurde.
Und es gab 2022 noch etwas Besonderes: Am Oranienplatz, wo es am Ende zu den Ausschreitungen kam, waren zahllose schaulustige, betrunkene Jugendliche. Insbesondere solche mit Migrationshintergrund – und genau auf die scheinen es die Linksextremisten in diesem Jahr abgesehen zu haben.
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