Bei der Debatte über eine Erklärung zum Völkermord an den Jesiden kommt es im Bundestag zum Eklat – obwohl sich in der Sache alle einig sind. Der Grund: Jesidische Besucher applaudieren einem AfD-Abgeordneten.
Es hätte eine humanitäre Sternstunde im Bundestag werden können und wurde zur parlamentarischen Peinlichkeit: Als im Plenum am vergangenen Donnerstag (19. Januar 2023) gegen Mittag ein Antrag beraten wurde, der die Verfolgung der jesidischen Minderheit im Nordirak durch die militanten Islamisten des so genannten „Islamischen Staates“ als „Völkermord“ anerkannte, kam es während und nach der Rede des AfD-Abgeordneten Martin Sichert (42) zu einer mehr als unwürdigen Brüll-Orgie und der Drohung, ausgerechnet eine Zuschauertribüne mit Jesiden zu räumen.
Der Grund: Die zumeist jesidischen Männer hatten am Ende von Sicherts Rede laut Beifall gespendet. Das hatten sie zwar bei den Vorrednern anderer Fraktionen auch schon getan, da jetzt aber ein AfD-Abgeordneter Applaus erhielt, brannten im Plenum offenbar einigen Parlamentariern die Sicherungen durch.
Göring-Eckardt: „sonst wird die Tribüne geräumt werden“
Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Grüne) ging zunächst gegen die Jesiden auf der Tribüne vor, um deren Schicksal es in der Debatte ging. „Ich weise sie darauf hin, dass auf der Tribüne Beifallskundgebungen nicht gestattet sind und bitte Sie, davon abzusehen, sonst wird die Tribüne geräumt werden müssen.“
Das ist in der Tat eiserne Regel im Bundestag. Vor dem Hintergrund johlender und demonstrierender NSDAP-Anhänger während der Nazi-Zeit, die den parlamentarischen Betrieb nicht nur störten, sondern auch Abgeordnete ängstigten und bedrohten, darf im Bundestag nur im Plenum applaudiert werden. Auch Plakate, Banner oder auffällige T-Shirts mit politischen Botschaften sind nicht gestattet.
„Wir haben gesehen, dass auf dieser Seite der Tribüne geklatscht worden ist. Ich weiß, dass das nicht geht, und deshalb habe ich gesagt, dass das unterbunden werden muss, und wenn ich noch einmal sehe, dass dort auf der Tribüne von irgendwelchen Beifallsbekundungen Gebrauch gemacht wird, dann wird diese Tribüne auch geräumt“, erklärte Göring-Eckardt.
Sichert hatte zuvor in seiner Rede gesagt, es sei höchste Zeit gewesen, dass der Bundestag den Völkermord an den Jesiden anerkenne. Seine Fraktion habe bereits vor Monaten einen Antrag dazu eingebracht, dieser sei aber im Plenum abgelehnt worden. Es sei gut, dass es nun den interfraktionellen Antrag gebe, sagte Sichert. Allerdings müssten den „schönen Worten auch konkrete Taten“ folgen: Täter sollten konsequent verfolgt werden – hier aber hätten alle Bundesregierungen seit 2014 versagt.
„Scheiß Nazis!“ – „Raus! Alle raus!“
Zu heftigen Reaktionen der anderen Fraktionen kam es, als der AfD-Mann erklärte, Hinweisen, dass unter „Asylbewerbern Kriegsverbrecher“ gewesen seien, habe man zu oft ignoriert. Er warf den übrigen Parteien vor, auf dem „Auge des radikalen Islam“ blind zu sein. „Wir müssen darüber reden, dass die Vorstellungen der Scharia nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sind, wenn wir Minderheiten wie die Jesiden schützen wollen.“
Als Sichert, der selbst mit einer Jesidin verheiratet ist, aufforderte, die Türkei nicht länger in ihrem Kampf gegen die Jesiden zu unterstützen, verzeichnet das Protokoll den Zwischenruf „Scheiß Nazis!“ des Linken-Abgeordneten Jan Korte. Normalerweise sind Nazi-Vergleiche ein Tabu, das von allen Fraktionen akzeptiert und mit einem Ordnungsruf des Präsidiums geahndet wird. Göring-Eckardt ließ es laufen.
Mindestens ebenso bemerkenswert aber ist, dass sich reihenweise Abgeordnete dazu hinreißen ließen, die jesidischen Zuschauer zu beschimpfen, wie das Protokoll nüchtern vermerkt: „Ulrich Lechte [FDP]: Raus! Alle raus! Sofort verlassen! – Dr. Nils Schmid [SPD]: Raus! – Anke Hennig [SPD]: Die haben gefilmt und fotografiert!“ Eine keifende Horde peinlicher Petzer in der vermeintlichen Mitte des Hohen Hauses!
„Katja Mast [SPD]: Unmöglich! Fünfmal! – Anke Hennig [SPD]: Das ist die ganze Zeit gelaufen!“ Katja Mast, parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Fraktion, sprach den Vorfall nach Informationen von Pleiteticker.de später auch im Ältestenrat des Bundestags an und monierte, dass Göring-Eckardt nicht härter durchgegriffen habe – gegen die Jesiden.
Wer Reden und Zwischenrufe im Detail nachvollziehen will, findet auf der Seite des Bundestages eine umfassende und jeder parteipolitischen Verzerrung unverdächtige Dokumentation.