- Unter vielen Türken in Deutschland hat Recep Tayyip Erdoğan einen guten Ruf.
- Erdoğan zerrt dabei von einem Aufstiegsmythos und Popularitätskult, der ihn für viele zum volksnahen Kümmerer werden lässt
- Aber Erdoğan positioniert sich auch erfolgreich als Gegner eines linksgrünen Zeitgeists.
Dass sich Recep Tayyip Erdoğan bei den in Deutschland lebenden Mitgliedern der türkischen Diaspora einer solchen Beliebtheit erfreut, hat vielerlei Gründe. Er wurde in sehr bescheidenen Verhältnissen in Istanbul geboren und hat es vom einfachen Straßenhändler zum Bürgermeister der Stadt gebracht. Während seiner Amtszeit kümmerte er sich um die Wasserknappheit, das Müllproblem, den katastrophalen Verkehr und den Smog. Als Bürgermeister hat er wirklich etwas bewegt, vieles verbessert und dafür wurde er mit dem Vertrauen der Bürger belohnt – auch außerhalb Istanbuls. Er hat sich also schon in seiner Anfangszeit den Ruf eines Kümmerers erarbeitet.
Glück im Unglück
1998 wurde er aufgrund einer umstrittenen Rede wegen Volksverhetzung zu einer Gefängnisstrafe verurteilt: „Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufspringen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Moscheekuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.“ Für viele Türken war der Prozess ein abgekartetes Spiel und der schamlose Versuch der korrupten Elite, einen gottesfürchtigen ehrlichen Diener des Volkes aus dem Weg zu räumen.
Die Inhaftierung verhalf ihm zu einem enormen Popularitätsschub in der Bevölkerung. Für sie war er ein Held, der für die Rechte des einfachen Mannes kämpft und sich von den gottlosen Mächten nicht unterkriegen lässt. Nun ging es steil bergauf. Erdoğan setzte sich weiterhin für die Modernisierung der Infrastruktur im ganzen Land ein, gefolgt von Reformen zur Demokratisierung des Landes. Die Todesstrafe wurde abgeschafft, die Meinungsfreiheit und die Rechte der Frauen gestärkt.
Zu viel Macht?
Der britische Historiker Lord Acton hat einst gesagt: „Macht korrumpiert, absolute Macht korrumpiert absolut.“ Nachdem Erdoğan das höchste politische Amt im Lande übernommen hatte, begann er, seine Macht zunehmend auszuweiten und die Rechte der Oppositionellen einzuschränken. Das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Pressefreiheit wurden beschnitten, Journalisten und Medienunternehmen unter Druck gesetzt und sogar angeklagt. Den Entscheidungsträgern in Medien, Industrie und Wirtschaft machte Erdoğan klar, dass er diejenigen belohnt, die sich seinen Wünschen fügen, und diejenigen bestraft, die dies nicht tun.
Sein autokratischer Kurs hat das Land längst in eine Krise gestürzt, die selbst seine treuesten Anhänger in der Bevölkerung nicht mehr beschönigen möchten. Ich habe eine Reihe von Bekannten, die in der Türkei leben und früher Recep Tayyip Erdoğan geradezu vergöttert haben. Heute verteufeln sie ihn. Die Tatsache, dass keine dieser Personen in diesem Artikel namentlich genannt werden wollte, spricht Bände.
Zu weit weg?
Ganz anders sieht es bei den Türken in Deutschland aus. Zwar kommunizieren sie regelmäßig mit ihren Verwandten in der alten Heimat, doch bekommen sie die negativen Konsequenzen seiner Regentschaft nicht am eigenen Leib zu spüren. Zumal diverse Organisationen in Deutschland sehr effektiv Lobby-Arbeit für Erdoğans AKP betreiben. Besonders aktiv ist die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (Abkürzung: DITIB), welche in Deutschland mit hunderten Moscheevereinen zusammenarbeitet. Sie gilt als der verlängerte Arm des türkischen Staates und hat einen sehr starken Einfluss auf traditionsbewusste gläubige Muslime in Deutschland.
Auch die UID (Union der Internationalen Demokraten) trägt viel zum Erfolg der AKP bei. Sie gilt offiziell als Nichtregierungsorganisation, handelt aber im Interesse Erdoğans und organisiert regelmäßig Auslandsauftritte von AKP-Politikern. Kurzum: Erdoğan und seine Partei verfügen über ein weitreichendes Netzwerk in Deutschland und haben damit viel mehr Möglichkeiten als die Opposition, potenzielle Wähler zu erreichen.
Tradition verpflichtet
Es gibt aber auch ganz simple Gründe: Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Ich kenne Deutschtürken, die schon immer die SPD gewählt haben und das auch weiterhin tun werden, obwohl sie für Olaf Scholz und Nancy Faeser nur Verachtung übrig haben. Genauso wie sie ihrer „Arbeiterpartei“ in Deutschland treu bleiben, wählen sie in der Türkei weiterhin die islamisch-konservative AKP. Interessanterweise kenne ich aber noch mehr Deutschtürken, die früher die SPD und die Grünen gewählt haben, aber später zur CDU und sogar zur AfD gewechselt sind. Trotzdem stehen sie bei den Wahlen in der Türkei immer noch zu Erdoğan.
Das wirkt auf den ersten Blick paradox, doch wenn man darüber nachdenkt, ergibt es Sinn. So hatte etwa das grüne Traumpaar, bestehend aus Ricarda Lang und Omid Nouripour, dazu aufgerufen, für den Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu anstelle von Erdoğan zu stimmen. Lang und Nouripour genießen aber nicht unbedingt das höchste Ansehen unter den Türken, um es höflich auszudrücken.
Das andere Extrem
Und das bringt uns zum nächsten Grund, denn viele Türken in Deutschland fühlen sich von der Ampelregierung völlig vor den Kopf gestoßen. Sie machen sich viel mehr Sorgen über die politischen Entwicklungen in Deutschland als über Erdoğans Eskapaden in der Türkei. Ich habe meinen türkischen Bekannten und Kollegen diese hypothetische Frage gestellt: „Würdest du Erdoğan wählen, wenn du damit verhindern könntest, dass Ricarda Lang deutsche Bundeskanzlerin wird?“ Alle haben mit „Ja“ geantwortet. Wenn also Ricarda Lang die Türken bittet, nicht für Erdoğan zu stimmen, dann erreicht sie wahrscheinlich das genaue Gegenteil.
Nicht wenige Türken befürchten, dass die Türkei eines Tages denselben Kurs wie Deutschland oder die USA einschlagen und sich linksgrünen Ideologen unterwerfen könnte, sollte Erdoğan abgewählt werden. Sie wissen ganz genau, dass er sich schon lange nicht mehr um die Interessen des kleinen Mannes kümmert, sondern in erster Linie um seinen Machterhalt. Allerdings erleben sie in Deutschland gerade das andere Extrem und stellen sich die Frage: „Was bringen mir Gleichberechtigung, Demokratie und Meinungsfreiheit auf dem Papier, wenn ich trotzdem nichts zu melden und bald auch nichts mehr zu beißen habe?“
Es gibt also nicht den einen Grund, der erklärt, warum Erdoğan bei den Türken in Deutschland so beliebt ist. Umso gespannter bin ich auf die Wahlergebnisse, denn es gibt 1,5 Millionen registrierte Türkei-Wähler in der Bundesrepublik, die am Ende das Zünglein an der Waage sein könnten.