
Inszenierte Selbstwertschätzung ist nicht nur bei Hollywood-Stars im Trend. Doch welche Bedeutung hat Eigenliebe, wenn sie ein Publikum braucht? Soziale Medien und Lockdowns haben offenbar ihre Spuren hinterlassen.
„Ich kann mich besser lieben als du“, singt Miley Cyrus in ihrer neuen Single „Flowers“. Das Hollywood-Sternchen, das viele noch aus ihrer Disney-Kinderkarriere kennen, verarbeitet in ihrem Song offenbar das Ende einer Beziehung mit einer großen Portion „Selbstliebe“. Wie das aussieht, erfahren wir im zugehörigen Musikvideo: Miley kämpft sich durch zahllose – etwas angsteinflößende – Kraftsporteinheiten, tanzt alleine durch eine Millionen-Dollar-Villa und räkelt sich im Bikini in der Sonne. Dazu der Text: „Ich kann mir selbst Blumen kaufen, meinen Namen in den Sand schreiben, mit mir selbst stundenlang reden, […und] meine eigene Hand halten“.
Ein Star heiratet sich selbst – absurder Trend in Hollywood
„Selflove“ ist Trend in Hollywood und in den sozialen Medien – und meint mehr, als sich nur nach einem hartem Arbeitstag mal eine Badewanne und ein gutes Glas Rotwein zu gönnen. Stattdessen inszenieren sich Frauen in pseudo-rebellischer Manier als unabhängig von allem und jedem – und glücklich mit sich allein. Den Vogel abgeschossen hat die Sängerin Selena Gomez, die vor Kurzem öffentlich machte, sich im letzten Sommer mit einer großen Party selbst geheiratet zu haben. Wer „Sologamie“ googelt, findet verstörende Schilderungen von „Hochzeiten“, bei denen sich Frauen selbst vor Publikum ein Ehegelübde geben und sich einen Ring über den Finger stülpen.
Was soll das nur alles? Haben sich die Frauen in den Corona-Jahren etwa aus Angst vor dem Alleinsein durch eine unglückliche Beziehung gequält und jetzt endlich den Absprung geschafft? Vielleicht. Doch vermutlich ist es mehr als das: Miley und Selena zelebrieren ihr Single-Dasein, als wären sie Nachfolgerinnen von Jane Austen – unabhängig und rebellisch durch die Wahl, das eigene Leben ohne einen Mann und vom eigenen Geld zu bestreiten. Vielleicht sollte ihnen mal jemand sagen: Wir sind nicht mehr im 18. Jahrhundert. Heutzutage kann jede Frau ihre Brötchen selbst verdienen und lebenslang ungebunden bleiben. Wahrscheinlich ist es heute schwerer denn je, die „Ich heirate mal reich und muss deswegen nicht arbeiten“-Masche durchzuziehen.
Und sind wir mal ehrlich: Wenn eine Frau nach einer Trennung ihre Haare neu stylt, wie eine Wahnsinnige ins Fitnessstudio rennt und öffentlichkeitswirksam ihre Selbstliebe verkündet, denken sich die meisten Leute doch nicht „Was für eine beeindruckende Frau“. Ja, ich frage mich, welche erwachsene Frau, die sich ihrer Selbst bewusst ist, überhaupt das Bedürfnis hat, das anderen mitzuteilen. Zeigt eine Frau, die in die Welt hinausschreit, wie glücklich sie alleine ist, in Wirklichkeit nicht genau das Gegenteil?
Trauriges Zelebrieren von Beziehungsunfähigkeit
Vor über 40 Jahren hat Gloria Gaynor den Breakup-Song „I Will Survive“ veröffentlicht. Auch hier geht es um „Sich-Selbst-Wiederaufrichten“ nach einer Trennung, allerdings nicht in Form von peinlichen Selbstinszenierungen. Gaynor singt: „Solange ich weiß, wie man liebt, weiß ich, dass ich überleben werde.“ Weil sie noch immer „ihre ganze Liebe zu geben“ habe – so die Message des Songs – werde sie schon über diesen Mann hinwegkommen.
Obwohl die Songs von Miley und Gaynor erst einmal ähnlich wirken, könnten ihre Aussagen kaum unterschiedlicher sein. Gaynor kämpft sich aus der Angst, ohne diesen Mann nicht mehr leben zu können, heraus mit der Einsicht, dass sie, solange sie lieben kann, schon jemand anderen zum Lieben finden wird. Miley wiederum entschließt sich nach der Erkenntnis, nicht genug geliebt geworden zu sein, dazu, ab sofort lieber allein zu sein.
Nun wäre das ja alles halb so wild, würde es sich hier nur um eine Einzelmeinung eines verirrten Hollywood-Stars handeln. Ich habe aber das Gefühl, dass es – zumindest in den Großstädten – generell zum Trend wird, nicht mehr die Nähe anderer Menschen zu suchen, sondern sich mit oberflächlichen Bekanntschaften zufrieden zugeben. Der „Selflove“-Trend wirkt daher weniger wie ein Akt der Emanzipation, sondern eher wie ein trauriges Zelebrieren von Beziehungsunfähigkeit – in einer Welt, in der die Menschen durch Soziale Medien, Dating-Apps und (nicht zuletzt) Lockdowns immer kontaktgestörter geworden sind.
Also Miley: Klar, können wir alle auch unsere eigene Hand halten. Aber wäre es nicht schöner, die eines anderen zu berühren?