In einem zweiseitigen „Manifest“, das „Schuler! Fragen, was ist“ vorliegt, rechnet die CDU-Denkfabrik R21 mit der Ära von Kanzlerin a.D. Angela Merkel ab und fordert einen grundlegenden Neustart der deutschen Politik.
Was die CDU als Partei bislang nicht geschafft hat, holt jetzt die CDU-nahe Denkfabrik R21 (für Republik im 21. Jahrhundert) von Ex-Familienministerin Kristina Schröder (hier im Interview) und dem Mainzer Historiker Andreas Rödder (beide CDU) nach. Auf einem eintägigen Kongress in Berlin wollen Experten aus Politik und Wirtschaft eine Bilanz der Kanzlerschaft Merkels ziehen und ein abschließendes „Manifest“ beschließen.
Ein Totalverriss der Ära Merkel
Der Text, in dem der Name Merkel an keiner Stelle vorkommt, ist dennoch mehr als deutlich. Der Begriff „Zeitenwende“ von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sei „viel mehr als nur eine sektorale Reparaturleistung in der Verteidigungs- oder Außenpolitik“, schreiben die Autoren gleich eingangs. „Der Begriff der ,Zeitenwende‘ markiert das Ende der Komfortzone, in der Deutschland es sich zu lange bequem gemacht hat. Notwendig ist eine grundlegende Kurskorrektur der gesamten Politik.“
Das klingt moderat, ist aber nichts weniger, als ein Totalverriss der Ära Merkel. In den folgenden Abschnitten werden die Autoren deutlicher:
„Die politische Ordnung und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit Deutschlands sind Anfechtungen und Gefährdungen ausgesetzt, die lange unterschätzt, falsch bewertet oder sträflich vernachlässigt worden sind: Tendenzen der Desintegration und Spaltung im Innern, Denkblockaden und Diskursverengungen durch Moralisierung und Ideologisierung, die demographische Entwicklung, fortschreitende Bürokratisierung und gesetzliche Rahmenbedingungen, die unternehmerische Tätigkeit und Innovation behindern im Innern und das aggressive Auftreten und Handeln Russlands und immer mehr auch Chinas von außen.“
Offenbar aus Rücksicht auf die empfindsame Parteiseele der Union drücken sich die Verfasser um die klare Benennung der politisch Verantwortlichen herum und beschreiben Zustände und Verfassung Deutschlands lediglich wie eine Art Unfallbericht:
„Diese Herausforderungen sind weder neu noch eine Folge des Überfalls Russlands auf die Ukraine. Deutschland war zu lange nicht in der Lage oder nicht willens, auf diese Herausforderungen angemessene, strategische und mutige Antworten zu finden. Das gilt insbesondere für die bürgerlichen Parteien, die weder eine auf den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft beruhende ordnungspolitische Strategie noch ein liberal-konservatives Gesamtkonzept entwickelt haben.
Stattdessen hat der Staat seinen Zuständigkeitsanspruch immer weiter ausgedehnt und die Illusion eines immerwährenden, durch staatliche Transfers abgesicherten Wohlstands genährt. Der Staat hat Erwartungen geweckt, die er einerseits nicht mehr rückgängig machen, andererseits unmöglich umfassend erfüllen kann. Diese Politik gefährdet die Grundlagen unseres Gemeinwesens.“
Staat „nicht mehr hinreichend handlungsfähig“
Eine Politik, die die „Grundlagen unseres Gemeinwesens“ gefährdet wird hier ins Stammbuch der Union geschrieben. In einfacher und klarer Sprache müsste man sagen: Deutschland wurde heruntergewirtschaftet. Bei den Autoren von R21 klingt das so:
„Der deutsche Staat hat auf diese Weise große Teile seiner Substanz verzehrt und ist in seinen Kernaufgaben nicht mehr hinreichend handlungsfähig. Das gilt für die äußere Verteidigung ebenso wie für die innere Sicherheit, die Infrastruktur, das Bildungswesen oder die Digitalisierung. Als Investitionsstandort ist Deutschland angesichts hoher Steuern, Energiepreisen und Regulierungslasten kaum noch wettbewerbsfähig.“
Das Fazit des Manifests: Deutschland brauche eine „bürgerliche Politikwende“, eine Generalreform und einen neuen Politikstil, der „nach innen und nach außen Führungswillen zeigt, eine offene Debattenkultur fördert, die das Denken in alternativen Szenarien einschließt und so Gestaltungsspielräume des demokratischen Wettbewerbs eröffnet, umfassend strategisch denkt und Politik nicht auf operatives Verwaltungshandeln oder die Exekution vermeintlicher Alternativlosigkeiten reduziert, (…) die geopolitischen Interessen des Landes deutlich formuliert und vertritt“ und „deutsche Sonderwege aufgrund vermeintlich höherer Einsicht und angenommener moralischer Überlegenheit vermeidet“.
Politische Feinschmecker werden in Stichworten wie „Alternativlosigkeiten“ schmerzhafte Erinnerungen an ein Kanzler-Bonmot von Angela Merkel entdecken. Viel deutlicher wird das Manifest allerdings nicht. Es ist ausdrücklich kein offizielles Papier der Partei CDU, auf deren Stellungnahme man gespannt sein darf.