
Eigentlich wollte die Ampel-Koalition die AKW-Debatte beendet haben – mit einem Machtwort von Bundeskanzler Scholz. Doch von dessen Richtlinienkompetenz ist scheinbar nichts mehr übrig: Die FDP fordert erneut den Ausstieg aus dem Ausstieg.
Im Oktober sprach Olaf Scholz ein „Machtwort“: So nannte zumindest die Presse den Einsatz der Richtlinienkompetenz durch den Bundeskanzler. In einem Brief an Bundeswirtschaftsminister Habeck verordnete Scholz die Verschiebung des Atomausstieges auf April – „entsprechend Paragraph 1 der Geschäftsordnung der Bundesregierung“, welcher die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers festschreibt. Es ist erst das zweite mal in der Geschichte der Bundesrepublik, dass ein Kanzler sich offen auf die Richtlinienkompetenz berief – das zeugte schon damals von heftigem Zwist in der Koalition. Doch rund zwei Monate später ist vom „Machtwort“ des Olaf Scholz nicht mehr viel übrig. Nichtmal bis ins neue Jahr hielt die Basta-Politik des Bundeskanzlers den Deckel auf dem brodelnden Atomstreit.
Atom-Attacke der FDP beschädigt Scholz
Ausgerechnet ein Kabinettsmitglied brach den Ampel-Burgfrieden. Am Sonntag forderte Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) die Abkehr vom Atom-Ende im April. Hintergrund: Ab 2035 sollen nur noch Elektroautos zugelassen werden, neue Verbrenner-Motoren verboten werden. Dazu müsse Strom aber bezahlbar bleiben, sagte Wissing gegenüber der Bild. „Wenn eine Laufzeitverlängerung einen Beitrag dazu leisten kann, sollte man dies nicht vorschnell ablehnen, alleine schon aus Gründen des Klimaschutzes“, so der Verkehrsminister. Auch FDP-Generalsekretär Bijan Dijr-Sarai preschte heute vor, attackierte Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne), dessen Ressort auch für Energiefragen zuständig ist. Der Minister müsse einen klaren Fahrplan vorlegen, wie die durch den Atomausstieg wegfallenden Energiemengen ersetzt werden könnten. „Von einer Tabuisierung einer Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke über den April 2023 hinaus rate ich dabei ab“, sagte Dijr-Sarai zur Bild. Ein inhaltlich richtiger Vorstoß – und ein Frontalangriff auf den Bundeskanzler und die Rot-Grünen Koalitionspartner.
Vom „Führungskanzler“ keine Spur mehr
Schon vor der neuen Atom-Attacke der FDP sprach Olaf Scholz’ „Machtwort“ Bände über den Zustand der Koalition.In einer stabilen Regierung muss ein Kanzler sich gar nicht erst auf die Richtlinienkompetenz berufen. Eigentlich war dieses scharfe Schwert in der Geschichte der Bundespolitik deshalb immer in der Scheide gelassen worden: Der Griff zur Richtlinienkompetenz galt jahrzehntelang als letzter Schritt vor der Vertrauensfrage. SPD-Politiker Franz Müntefering sagte 2005: „Die Anwendung der Richtlinie, die ist nicht lebenswirklich. Wer das macht in einer Koalition, der weiß, dass die Koalition zu Ende ist.“ Der ehemalige sozialdemokratische Vizekanzler Sigmar Gabriel urteilte 2013: „Wer die Richtlinienkompetenz als Kanzler gegen den Koalitionspartner ausübt, der beendet die Koalition.“ Wenn diese Urteile der Genossen stimmen, dürfte das Kabinett so gespalten sein wie noch keine Regierung seit der Wiedervereinigung. Wissing und die FDP stellen mit dem Atomausstieg auch die Autorität von Olaf Scholz in Frage: Der Kanzler, der einst „Führung“ versprach, verliert die Kontrolle über seine Regierung. Dieser Tage dürfte so mancher Politiker in Berlin an das Ende der Kanzlerschaft Helmut Schmidts denken: Der hamburger Sozialdemokrat verlor sein Amt, als die FDP ihm von der Fahne ging.
Der Vergleich zwischen Schmidt und Scholz hinkt sicherlich – der eine war ein harter und fähiger Krisenmanager, der andere ist vor allem ein Kann-nicht-Kanzler. Und ob die FDP wirklich den Koalitionsbruch wagt, dürfte zu bezweifeln sein. Zu sehr wirkt das Stigma des Jamaika-Scheiterns noch nach, zu sehr haben die Liberalen sich nach dem Eintritt in die Ampel in ihrem Verständnis von „staatspolitischer Verantwortung“ einbetoniert. Aber die Autorität von Olaf Scholz ist, ein Jahr nach Antritt seiner Regierung, bereits am Ende. Selbst seine eigenen Minister jagen ihn jetzt – vom „Führungskanzler“ keine Spur mehr.