Jeder spürt sie: Deutschland erlebt eine Rekord-Grippewelle. Doch was sind die echten Ursachen – und wie kann die Politik vernünftig reagieren?

Husten, Halsschmerzen, Fieber: In Deutschland leiden im Moment so viele Menschen an Atemwegserkrankungen wie seit vielen Jahren nicht mehr. Die aktuelle Rate liegt laut RKI Grippeweb mit 11,4 Prozent deutlich über den vorpandemischen Vorjahreswerten zu dieser Zeit. Alarmierend: Sie überschreitet sogar die Höchstwerte, die sonst in schweren Grippewellen erst im Februar erreicht wurden, beispielsweise während der Grippe-Saison 2017/18. Die Gründe hierfür sind aus Sicht des Epidemiologen Klaus Stöhr naheliegend. “Das, was nun passiert, war abzusehen, und ich habe es bereits vor einem Jahr gesagt: Jeder Mensch frischt seine Immunität mehrmals im Jahr auf, Erwachsene im Schnitt vier bis sechs mal, Kinder acht bis zwölf mal.”
Wenn das über eine gewisse Zeit nicht passiere, so Stöhr, würden die Infektionen eben später nachgeholt. „Lässt man einige Infektionen aus, wird die nächste natürlich schwerer, weil man die ‘Auffrischung’ nicht hat.” Grundsätzlich plausibel findet diese Erklärung auch der Immunologe Andreas Radbruch, der eine Professur an der Charité innehat. Er sagt: “Kontakt zu den Erregern könnte ein Grund für gute Antikörper sein.” Allerdings gibt er zu Bedenken: “Wirklich belegt ist das nicht. Die Resilienz gegen Atemwegsinfektionen ist nicht wirklich gut erforscht, weil sie auf Antikörpern auf den Schleimhäuten der Atemwege gegen die Infektionserreger beruht. Diese Antikörper werden selten gemessen, ein großes Defizit der immunologischen Forschung.” Dass übertriebene Hygiene also letztlich zur aktuellen Welle geführt hat, ist laut Radbruch nicht wirklich gut belegt.“
Die Politik hat über Jahre das ambulante und klinische System gegen die Wand gefahren
Zur Zeit gibt es keine mir bekannte Evidenz, dass Lockdowns in der Pandemie oder die Impfungen/Infektionen die Ursache der hohen Frequenz von Atemwegsinfektionen sind.” Stöhr gibt den übertriebenen Hygiene-Maßnahmen hingegen eine Mit-Verantwortung – und glaubt trotzdem, dass sie zeitweise und für eine bestimmte Bevölkerungsgruppe notwendig waren. “Es war richtig, alle über 60 möglichst vor Infektionen zu schützen, bis sie die Gelegenheit zur Impfung hatten.”
Anders sieht er die Lage bei den Kindern. “Diese überhaupt aus den Infektionskette rauszunehmen, und ihnen dadurch die Möglichkeit zur regelmäßigen Immunisierung zu nehmen, war ein Fehler, weil absehbar war, dass es so schnell keinen Impfstoff für sie geben würde”, so Stöhr.Auch der Sprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte, Jakob Maske, sieht in verhinderten Infektionen den Grund für die Zunahme, die in seinen Augen allerdings nicht so dramatisch ist, wie häufig dargestellt: „Es gibt eine gewisse Zunahme aufgrund der nicht durchgemachten Infekte in den letzten zwei Jahren. Hier gibt es einen Nachholeffekt, der natürlich dann auch zu einer Häufung von Erkrankungen zur gleichen Zeit führt.”
Akute Handlungsmöglichkeiten, die die Politik nun einleiten könnte, um zumindest die Kliniken zu entlasten, die die schweren Fälle behandeln, sieht er trotzdem nicht. Seine Forderungen sind vielmehr langfristig. „Die Politik hat über Jahre das ambulante und klinische System gegen die Wand gefahren, diese Situation kann nicht wieder schnell behoben werden.” Politische Bemühungen müssten sich vor allem darauf konzentrieren, das noch vorhandene Personal zu halten. “Langfristig müssen Medizin-Studienplätze geschaffen werden, die Ausbildung der Kinderkrankenpflege muss wieder eingeführt werden und die Wertschätzung/Bezahlung unserer Medizinischen Fachangestellten muss aufgewertet werden.”