Vor einem Jahr überfiel Russland die Ukraine. Seitdem hat sich vieles verändert – die deutsche Schläfrigkeit in Fragen der internationalen Sicherheit aber nicht. Während die Ukrainer nach wie vor um jeden Meter ihres Landes kämpfen, ist Berlin immer noch nicht wachgeworden. Die Zeitenwende, die Olaf Scholz vor einem Jahr beschwor – sie ist eine Wende um 360 Grad.

Mit einem kühlen Lächeln sitzt Christian Lindner im Büro von Andrji Melnyk. Seit wenigen Stunden läuft der russische Großangriff auf die Ukraine. Für Melnyk läuft bereits der Einsatz an einer anderen Front – der diplomatischen Front. Hier sind die Gegner nicht russische Soldaten. Es ist vor allem eine deutsche Gleichgültigkeit und Apathie, die er bekämpft. Ein Vertreter dieser Apathie sitzt gerade vor ihm. Lindner erklärt, die Ukraine habe nur noch wenige Stunden zu existieren. Sanktionen gegen Russland, wie der Ausschluss vom internationalen Banken-Zahlungssystem Swift, seien sinnlos – stattdessen müsse man sich mit den neuen Verhältnissen arrangieren. Lindner faselt von einer ukrainischen Exilregierung, die jetzt aufgebaut werden müsse. Melnyk ist fassungslos – so erzählt er sein Erleben des ersten Tages der Invasion.
Wenige Tage später. Am Wochenende kommt der Bundestag zur Sondersitzung zusammen. Melnyk sitzt auf der Ehrentribüne neben Alt-Bundespräsident Gauck. Die beiden kennen und schätzen sich. Unten im Plenum hält Scholz seine berühmte „Zeitenwende“-Rede. Er sagt gute, richtige Dinge – man könnte glauben, die deutsche Politik sei endlich aufgewacht.
Während Melnyk die Lage schildert, bestellt Ricarda Lang noch ein Eis
Dass dem nicht so ist, erlebt Melnyk nach der Sondersitzung. Er verlässt das Reichstagsgebäude – es geht ins Haus der parlamentarischen Gesellschaft. Dort trifft er die Parteispitze der Grünen. Parteichefs Omid Nouripour und Ricarda Lang, sowie die Fraktionschefinnen Katharina Dröge und Britta Haßelmann essen gerade Spiegeleier mit Bratkartoffeln, erzählt er. Der ukrainische Botschafter, so scheint es, ist für sie eher Unterhaltungsprogramm. Während er die verzweifelte Lage seines Landes schildert, erklärt Parteichef Nouripour ihm, was alles nicht gehe. Flugverbotszone? Zu schwierig! Ricarda Lang bestellt währenddessen noch ein Eis. Absurde Szenen, die man nicht glauben möchte. Man muss den schroffen und oft undiplomatischen Diplomaten nicht gut finden, um über seine Schilderungen empört zu sein. Sie zeigen, dass die deutsche Politik selbst nach dem Angriff noch nicht begriff, mit was für einem Ereignis sie es hier zu tun hatte. Putin stürzte die europäische Friedensordnung in einer Art um, wie es keiner vor ihm tat. Seit 1945 hat kein Ereignis, auch nicht der NATO-Angriff auf Jugoslawien, den Kontinent so erschüttert wie der Angriff vom 24. Februar 2022. Der Krieg mit Zielen aus dem letzten Jahrhundert – Territorialerweiterungen, „Anschluss“, das Ende einer Nation – ist eine historische Zäsur, die eine Ära beendete. Die Aufgaben, die daraus erwachsen, sind kein Zuckerschlecken – egal, wieviel Eis Frau Lang bestellt.
Stärkster Verbündeter Putins: Die deutsche Naivität
Die Bundesrepublik wurde von dieser Zäsur kalt überrascht. Für den BND-Chef, immerhin höchster Nachrichtendienstbeamter in Deutschland, kam der Einmarsch so unerwartet, dass er Hals über Kopf aus Kiew fliehen musste. Die bestinformiertesten Menschen in Deutschland saßen zu diesem Zeitpunkt nicht im Kanzleramt, in der BND-Zentrale oder im Außenministerium, sondern waren für die Bild in der Ukraine unterwegs. Blattvize Paul Ronzheimer wusste bereits vom geplanten Angriff, während Politik und Staat noch im Dunkeln tappten. Allein das zeigt, wie wenig ernst man die Gefahr, die sich gut sichtbar über Wochen und Monate an der ukrainischen Grenze zusammengebraut hatte, nahm. Auch die CIA hatte gewarnt, mehrmals. Warnungen, die man nicht hören wollte. Warnungen vor einer Realität, die man nicht akzeptieren wollte. Noch wenige Tage vor dem Angriff lobte SPD-Chefin in einem unvergesslichen Tweet die „beeindruckende Krisendiplomatie der Ampelregierung und des Bundeskanzlers“, weil Putin nach einem Treffen mit Scholz ein paar Truppen abzog und angebliche Verhandlungsbereitschaft signalisierte. Es war eine Finte, auf die die blauäugige Bundesregierung voll hereinfiel. Deutschland habe auf Verhandlungen mit den Russen gesetzt, sagt Andrji Melnyk. Aber Putin wollte nicht verhandeln. Er habe nur auf den richtigen Zeitpunkt gewartet, zuzuschlagen. „Als seine Kumpels von der SPD an der Regierung waren und sich Scholz versteckte, war der Zeitpunkt da“, sagt Melnyk. Olaf Scholz, seine SPD und seine Bundesregierung dürften in diesen Tagen – man muss es so hart formulieren – die nützlichsten Idioten des Kremls gewesen sein.
Ein Jahr nach dem Angriff gibt es die Ukraine noch immer. Der Widerstandswille des mutigen, ukrainischen Volkes trägt dazu viel bei – die schlechte Organisation im korrupten Militärapparat der russischen Föderation fast noch mehr. Fast alle, so scheint es, hatten die Ukraine unter- und Russland überschätzt. Ein Jahr nach Beginn einer „Militäroperation“, die als Blitzkrieg gedacht war, scheint klar: Dieser Konflikt wird uns noch lange begleiten. Russland zumindest ist bereit, das „long game“ zu spielen. Seine Ökonomie ist längst auf Kriegswirtschaft umgestellt. Der Krieg ist jetzt auch ein Abnutzungskrieg gegen die westliche Entschlossenheit: Moskau hofft, den Unterstützungswillen des Westens langsam zu brechen.
Mehr Schmidt wagen – weniger Schwarzer
Einige in Deutschland tragen dazu heute schon bei. Angeblich „Friedensbewegte“ fordern öffentlichkeitswirksam das Ende des Krieges – adressieren dies aber scheinbar vor allem an die Ukraine und ihre westlichen Partner. Kritik an Russland? Sparsam. Stattdessen fordern sie so etwas wie das Münchner Abkommen des 21. Jahrhunderts. Die besetzten Gebiete im Osten der Ukraine sind das neue Sudetenland, und Menschen wie Sahra Wagenknecht sind der Neville Chamberlain unserer Zeit. Sie wollen „Peace for our Time“ – werden damit aber ungefähr so weit kommen wie der Briten-Premier damals. Es sind alte, deutsche Reflexe, die an die Friedensbewegung der 80er erinnern. Auch damals polemisierten Linke gegen angebliche „Kriegstreiber“ wie Ronald Reagan und Helmut Schmidt, die dem Kreml die Stirn boten. Die beiden Staatsmänner nahmen es nicht hin, dass die Sowjetunion mit ihren Mittelstreckenraketen auf Europa zielte. Während die Friedensbewegung unter dem Motto „lieber rot als tot“ die vorauseilende Kapitulation vor dem Kommunismus auf die Straße trug, wehrten Reagan und Schmidt sich entschlossen gegen die nukleare Erpressung aus dem Osten. Mit Erfolg: Ihrer Politik ist es zu verdanken, dass das „Reich des Bösen“ am Ende des Jahrzehnts kollabierte. Heute reden russische Propagandisten im Staatsfernsehen regelmäßig über Atomschläge auf Deutschland -das tat selbst die Sowjetunion nicht. Und angeblich „Friedensbewegte“ sind wieder zum Kotau bereit.
„Wir sind nicht mehr im Kalten Krieg“, mögen viele nun einwerfen. Das Problem ist: Russland sieht das anders. Wenn Sergej Lawrow beispielsweise erklärt, dieser Krieg sei in Wahrheit ein Stellvertreterkrieg gegen den Westen, sollte man ihn ernstnehmen – immerhin ist er der Architekt der außenpolitischen Linie, die Europa in den ersten konventionellen Krieg seit 1945 geführt hat. „Wenn dir jemand sagt, wer er ist: Glaube ihm“, ist ein bekanntes englisches Sprichwort. Und die russische Führung hat uns immer wieder gesagt, wer sie ist und was sie vorhat. 2008 machte Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz bereits eine Kampfansage an die NATO. Bei einem späteren Auftritt auf der Konferenz sprach Lawrow auch der deutschen Wiedervereinigung ihre Legitimität ab: Die „Annexion“ der DDR sei quasi illegal gewesen, erklärte der russische Außenminister. Der Saal brach in Gelächter aus. Was für ein lustiger Witz! Was keiner zu merken schien: Der einzige, der nicht lachte, war Lawrow. Damals schon hätte man die Gefahr, die sich seit Jahren im Osten zusammenbraute, ernstnehmen müssen. Eines weiß man über Männer wie Lawrow, Putin und co.: Sie wollen keinen Frieden – sie müssen zum Frieden gezwungen werden. So, wie Reagan und Schmidt die Sowjetunion bezwangen, muss der Westen jetzt wieder entschlossen sein, die neoimperialistischen Ambitionen Putins bezwingen.
Eine Zeitenwende um 360 Grad
Zu Beginn des Krieges schien Berlin das begriffen zu haben. Wir erinnern uns an Scholz’ „Zeitenwende“-Rede vor dem Bundestag. Doch diese Erkenntnisse sind ein Jahr nach Kriegsbeginn weitgehend vergessen. Der Verteidigungshaushalt soll nicht erhöht werden. Das Sondervermögen droht Experten zufolge, zu verpuffen, wenn nicht auch grundliegende Strukturreformen angestoßen werden. Die wichtigste Reform ließ rund ein Jahr auf sich warten: Der Wechsel an der Spitze des Verteidigungsministeriums. Aus persönlicher Treue hielt Olaf Scholz eine Christine Lambrecht im Amt, die den Aufgaben offensichtlich bis zuletzt nicht gewachsen war. Eine Ministerin, die sich am Tag des russischen Großangriffs den Bendlerblock verlässt, um sich die Nägel machen zu lassen, hätte gar nicht erst in das Gebäude zurückkehren dürfen.
Auch sonst ist das Zeitenwende-Zeugnis eher mangelhaft. „Zeitenwende“ heißt auch, kompromisslos die bisherige Politik zu hinterfragen – vom Atomausstieg bis zu Fracking-Beschlüssen – und mit alten Glaubenssätzen zu brechen. Damit tut sich die Bundesrepublik nach wie vor schwer. Gerade die Grünen. Die können jetzt zwar Waffengattungen, Geschütztypen und Panzermodelle runterrattern wie früher bedrohte Pflanzenarten – aber ein Überdenken ihrer fatalen Energiepolitik, die uns in Abhängigkeit von russischem Gas gebracht hat, findet nicht statt. Dabei ist die Energiekrise nach wie vor die Achillesferse des Westens im Konflikt mit Russland. Hätte Putin in den letzten Jahren einen Agenten in die Grüne Partei eingeschleust – er hätte an der Politik der Partei nichts verändern müssen.
Und auch sicherheitspolitisch ist die Zeitenwende eine Luftnummer. Eine deutsche Führungsrolle in Europa, wie sie so viele unserer Partner seit Jahren fordern? Fehlanzeige. Mit dem peinlichen deutschen Hick-Hack um die Panzerlieferungen erkannte auch die Weltgemeinschaft, dass es mit der „Zeitenwende“ nicht weit her ist. Bisher ist sie, frei nach Annalena Baerbock, eine 360-Grad-Wende.
Die pathetischen Reden darüber, dass die Ukraine für uns, unsere Freiheit und unsere Werte kämpfe, sparen wir uns an der Stelle. Die Ukraine kämpft vor allem für ihr eigenes Überleben – das ist nobel genug. Es ist in unserem Interesse, sie dabei zu unterstützen – und endlich die notwendigen Konsequenzen für unser eigenes Land zu ziehen.