
Es ist sehr kalt, als Rudi aus dem U-Bahntunnel hochsteigt. Seine schmale Nase errötet, während er durch den beißend kalten Wind zum Treffpunkt läuft. Den Kopf hat Rudi mit einer locker geschnittenen Häkelmütze bedeckt, die er schon 1969 bei seiner ersten großen Vietnam-Demo anhatte und die er seitdem wie seinen Augapfel hütet. Das waren noch Zeiten, denkt Rudi, als er mit langen Haaren und dieser lässigen Lederjacke gegen die Grausamkeit Amerikas auf die Straße gegangen war. Heute schlägt sein Herz mit der gleichen Erregung wie damals. Unwillkürlich greift Rudi in seine Jackentasche und umschließt liebevoll die kleine Klebertube, die sich dort geschmeidig in seine Hand einfügt. Heute wollen sie sich auf einer neuen Hauptverkehrsstraße festkleben, zum ersten Mal ist es seine Aufgabe, im richtigen Moment auf die Straße zu rennen und die Sitzblockade zu starten. Er ist sehr aufgeregt – endlich wieder.„Rudi“, ruft eine Frauenstimme. „Rudi, hier rüber!“ Das muss Eden sein, denkt Rudi und überlegt, ob es sich lohnt, seine Brille heraus zu kramen. „Rudi“, ruft die Frauenstimme, „ich habe eine Warnweste für dich dabei! Wir haben jetzt neue – leider immer noch nicht klimaneutral hergestellt, aber immerhin von einer Firma aus Europa – du hattest dir ja Sorgen wegen Kinderarbeit bei der Herstellung gemacht!“ Ja, das muss sie sein. „Hallo Eden“, ruft Rudi und verzichtet auf die Brille. „Sorry für die Verspätung, ich habe noch in alten Erinnerungen gehangen“. Er lächelt mild, als er Edens Gesicht erkennt. Sie hat ihre grauen Haare heute zu Zöpfen geflochten und trägt den Schal aus Fairtrade-Wolle, den er ihr zum Wichteln geschenkt hat. „Rudi, hast du gesehen, dass unsere Freunde von Teachers for Future in Ludwigsburg mit uns demonstriert haben?“, strahlt Eden und sieht so schön aus wie an dem Tag im Mai, als sie sich bei dem Kennlerntreffen der Letzten Generation zum ersten Mal begegnet sind. „Nein, du weißt doch, ich habe kein Smartphone“, sagt er und schaut auf Edens verletze Hände. Die letzte Klebeaktion hatte ihre Handflächen komplett aufgerissen – er überlegt, wie er sie überzeugen könnte, sich heute einmal nicht festzukleben. „Die hatten auch tolle Plakate, Rudi! Eine hat ein Schild hochgehalten, auf dem stand: ‚Für welche Zukunft unterrichten wir‘?“ – recht hat sie, oder Rudi?“ Er nickt lächelnd.
Lange war Rudi nicht mehr so glücklich gewesen wie heute. Ein schier unerträgliche Zeit lang hatte sich sein Leben in einer Art Pausenzustand befunden. Als das mit den Vietnam-Demos aus der Mode gekommen war, hatte ihn seine Mutter genötigt, zu studieren. Er hatte dann zwanzig Semester Geographie- und Geologie-Vorlesungen besucht und nebenbei die Welt bereist. Doch irgendwann hatte seine Mutter ihm gedroht, ihn aus der Wohnung zu schmeißen, wenn er sich nicht endlich einen Job suche. Also hatte er dieses herunter gerockte Reisebüro von seinem Freund Henno übernommen, dort Montag bis Freitag von 10 bis 13 Uhr gesessen und Zeitung gelesen. Irgendwann war er dann auf Taxifahren umgestiegen – das war etwas besser gewesen. Er hatte diese nette Sitzbedeckung aus Holzkugeln gehabt und an seinem Rückspiegel hatte er das blaue Nazar-Amulett angebracht, das er damals aus seiner Asienreise mitgebracht hatte. Ja und ach! Er hatte – anders als im Reisebüro – den ganzen Tag rauchen können. Doch das Leben war eintönig geworden und in den stillen Nächten, in denen er besoffene Politiker und Wirtschaftsekel durch die Straßen fuhr, fragte er sich traurig, wieso er aufgehört hatte, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.
All das ist vorbei, seit Rudi bei der Letzen Generation mitmacht. „Schnee von gestern“, murmelt er während er angespannt auf die Straße starrt. Jetzt bin ich wieder Teil der Revolution, ganz vorne mit dabei, denkt er und rückt seine Warnweste zurecht. Sein Blick fällt noch einmal auf Eden, die hinter ihm steht und ebenso konzentriert die vorbeifahrenden Autos betrachtet. Neulich hat sie ihm gesagt, dass die Weihnachtszeit dazu da ist, sich auf die Dinge zu besinnen, für die man dankbar ist. Rudi drückt Sekundenkleber auf seine Handflächen und rennt los. Auf die Straße, jetzt, hier, sofort! Sein Puls schlägt schneller, endlich ist er wieder Teil einer Bewegung, endlich schaut eine Frau wieder zu ihm auf, endlich hat sein Leben wieder einen Sinn. Mit einer enormen Wucht schlägt Rudi seine Hände auf den Asphalt. Ein Hochgefühl sprudelt in seinem Bauch und Herzen. Nie war Rudi so dankbar wie in diesem Moment.