Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) hat einem AfD-Abgeordneten auf dessen Anfrage falsch vorgefilterte Daten zu Impfnebenwirkungen zur Verfügung gestellt, die dieser dann auf einer Pressekonferenz präsentierte. Doch auch über den Fehler der KBV hinaus findet man in den Datensätzen zahlreiche Ungereimtheiten.
„Es ist die Pflicht der Gesundheitsbehörden gegenüber den geimpften Bürgern, jedem noch so kleinen Sicherheitssignal nachzugehen”, sagt Matthias Schrappe gegenüber peiteticker.de. Der Infektiologe und Gesundheitsökonom vermisst nach den millionenfach verabreichten Covid-Impfungen in Deutschland das Interesse an ernsthafter Sicherheitsüberwachung: „Jede Behörde schiebt der anderen die Verantwortung zu, bei keiner einzigen erkenne ich den nötigen Erkenntniswillen”.
Schrappe hatte 2021 durch die von ihm aufgedeckte Affäre um die DIVI-Statistiken zu den belegten Intensivbetten für bundesweite Aufmerksamkeit gesorgt.
Endlich verlässliche Daten zu Impfnebenwirkungen? RKI und Paul-Ehrlich-Institut zeigen keine Bemühungen
Tatsächlich sucht man auch nach zwei Jahren, in denen in Deutschland Millionen von Covid-Impfdosen verabreicht wurden, noch vergeblich nach einem umfassenden und verlässlichen Monitoring von möglichen Nebenwirkungen. Weil Daten nachlässig, falsch oder gar nicht erhoben werden, und Behörden wie das Paul-Ehrlich- oder Robert-Koch-Institut, die eigentlich dafür zuständig wären, keine großen Bemühungen zeigen, das zu ändern.
Auch die Abrechnungsdaten, die der AfD-Abgeordnete Martin Sichert vor wenigen Tagen von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) erhalten hat, geben keinen Aufschluss – obwohl Sichert das auf einer kurzfristig anberaumten Pressekonferenz am Montag behauptete. Aus den Zahlen, die der Datenanalyst Tom Lausen aufgearbeitet hatte, und die inzwischen öffentlich einsehbar sind, lässt sich auf den ersten Blick tatsächlich Erschreckendes ableiten: Viele Erkrankungen wie beispielsweise Myokarditis und Lungenembolien sind ab dem ersten Quartal 2021 sprunghaft gestiegen, ebenso Todesfälle der Kategorie “plötzlich und unerwartet”. Sichert und Lausen forderten auf der Pressekonferenz das Paul-Ehrlich-Institut auf, diese alarmierenden Ergebnisse zu prüfen. Lausen zu Pleiteticker.de: “Es ist die Amtsaufgabe des Paul-Ehrlich-Instituts, auszuschließen, dass es sich nicht um unerwünschte Wirkungen der neuartigen Impfstoffe handelt.”
Keine der beiden Interpretationen ist haltbar
Die Konferenz schlug Wellen, einen Tag später sah sich die KBV zu einer öffentlichen Stellungnahme gezwungen. Vorstand Andreas Gassen bestätigte die Richtigkeit der dargestellten Zahlen, indem er sie seinerseits interpretierte: “Aus Sicht der KBV handelt es sich bei der dargestellten Zunahme der Todesfälle in den Quartalen I-IV 2021 und Quartal I 2022 größtenteils um eine pandemiebedingte Übersterblichkeit.”
Doch weder Lausens Interpretation noch die der KBV sind auf den zweiten Blick haltbar, und dieser Fehler liegt an einer Einschränkung bei der Ausgabe der Daten durch die KBV, die eine erkenntnisbringende Interpretation unmöglich macht.
Anders als von Lausen angefordert, wurden nämlich nicht die Daten aller Versicherten geliefert, sondern ausschließlich solche von Patienten, die 2021 mindestens einmal einen Arzt besucht hatten. Das hat zur Folge, dass manche Fälle komplett aus der Statistik fallen.
“Wir sind davon ausgegangen, dass wir die ganze Versichertenmenge bekommen – so wie wir es angefordert hatten”, erklärt Lausen gegenüber Pleiteticker.de. “Nun macht das ZI (Zentrales Forschungsinstitut für ärztliche Versorgung in Deutschland) aber plötzlich eine Kehrtwende und erklärt: Die Daten umfassen nur die Versicherten, die 2021 beim Arzt waren.”
Lausen hat Recht. Die Anfrage auf der Seite “Frag den Staat” ist klar und eindeutig formuliert, eine Bitte um die vorgenommene Einschränkung lässt sich nicht herauslesen.
Auch diese Erklärung wirft weitere Fragen auf
Das Problem, das durch die Einschränkung entstanden ist: Durch sie fallen alle Menschen aus der Statistik, die 2021 keinen Arzt gesehen haben – selbst wenn sie 2019 oder 2020 eigentlich ein Leiden hatten, das unter einem der angefragten Codes erfasst wurde.
Ein Beispiel: Ein Mann hatte im Jahr 2019 eine Herzmuskelentzündung, die vom Arzt festgestellt wurde, besuchte 2021 aber keinen Arzt. Seine Erkrankung taucht auch in der Statistik für das Jahr 2019 nicht auf – da er das Kriterium “war 2021 beim Arzt” nicht erfüllt.
Warum die KBV diese Einteilung eigenmächtig vorgenommen hat, ist unklar. Einen Datensatz ohne diese Einschränkung könne man nicht liefern, erklärt eine Sprecherin auf Anfrage.
Die Einschränkung erklärt den leichten Anstieg der betreffenden Krankheiten ziemlich genau, denn die meisten Menschen, die 2019 einen Herzinfarkt hatten, dürften 2021 trotzdem zum Arzt gegangen sein – aber eben nicht alle.
Doch so plausibel diese Erklärung zunächst erscheinen mag, bringt sie weitere Fragen auf: Die von Lausen und Sichert auf der Pressekonferenz vorgetragenen Daten betreffen nämlich überhaupt keine Krankheitsfälle, wie von den beiden angefordert – sondern Todesfälle. Warum diese in den KBV-Statistiken auftauchen, ist ein weiteres Mysterium für Lausen. „Die dürften da eigentlich gar nicht drin sein”, sagt er. „Es ist völlig unklar, wer diese Fälle erfasst und der KBV meldet. Ärzte tun das nicht.”
Richtig ist: Der Arzt rechnet eine Leichenschau nicht über die Krankenversicherung ab, Familien müssen sie selbst zahlen. Eine Sprecherin der KBV erklärt: „Tote tauchen nur in unseren Daten auf, wenn sie in Zusammenhang mit anderen abrechnungscodierten Leistungen erfasst werden. Der Totenschein selbst ist nicht Bestandteil der vertragsärztlichen Versorgung.”
Doch auch diese Erklärung zieht weitere Fragen nach sich. Denn wenn nur Daten von Versicherten geliefert wurden, die 2021 noch einen Arzt besucht haben – wie ist es dann möglich, dass überhaupt Tote aus den Jahren 2018, 2019 und 2020 auftauchen? Schließlich kann niemand, der 2019 gestorben ist, im Jahr 2021 noch einen Arzt besuchen.
Tausende Todesfälle von den Jahren 2016 bis 2020 „zufällig” durch Fehlcodierungen?
Die KBV-Sprecherin erklärt diese Diskrepanz mit Fehlern bei der Eingabe der Daten: “In der vertragsärztlichen Versorgung werden pro Jahr mehr als 600 Millionen Fälle abgerechnet… In dem großen Datensatz sind somit Milliarden von Kodierungen enthalten. Dabei kann es in Einzelfällen zu Eingabefehlern kommen. Beispiele dafür sind Zahlendreher, Auswahl des falschen Kodes, Übertragungsfehler aus anderen Unterlagen, die bei der Eingabe durch die Praxen in die elektronische Abrechnung erfolgen können.”
Lausen lacht, als er mit dieser Erklärung konfrontiert wird. Er ist überzeugt: „100.000 Todesfälle sind nicht durch Fehleingaben zu erklären, das halte ich für ausgeschlossen.”
Tausende Todesfälle von den Jahren 2016 bis 2020 „zufällig” durch Fehlcodierungen – das erscheint tatsächlich unrealistisch und wirft die Frage auf, wie belastbar die von der KBV erhobenen Zahlen überhaupt sind.
Die anhaltende deutsche Datenarmut: Sie ist den Gesundheitsbehörden anzulasten, die es auch nach zwei Jahren nicht schaffen, aufschlussreiche Zahlen zu erheben. Gesundheitsökonom Schrappe sieht hier vor allem Gesundheitsminister Karl Lauterbach in der Pflicht, die zuständigen Behörden endlich dazu aufzufordern, die für die Gesundheit der Menschen so wichtigen Informationen zu erfassen und auszuwerten: „Wenn er sich den professionellen Grundsätzen eines sicherheitsorientierten Vorgehens verpflichtet fühlen würde, dann wäre das seine heilige Pflicht.”