
Die Chemieindustrie in Ostdeutschland hat sich nach der Wiedervereinigung zu einem echten Motor der Wirtschaft entwickelt. Doch dieser Motor stottert – wegen der hohen Energiepreise droht ein Wegbrechen wichtiger wirtschaftlicher Strukturen. Tausende Arbeitsplätze stehen auf dem Spiel.
Es ist Mittwoch, der 26. Oktober. In Leuna, im südlichen Teil Sachsen-Anhalts, gehen hunderte auf die Straße. Die Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IGBCE) hat zum Protest aufgerufen. In Leuna stehen tausende Arbeitsplätze auf dem Spiel. Die Politik der Ampel droht zu zerstören, was nach der Wende mühsam aufgebaut wurde.
Es ist bereits der zweite Protest dieser Art. Schon im September demonstrierten 500 Personen, aus Angst um ihre Arbeitsplätze. Getan hat sich seitdem wenig. Nun läuft dem Chemiepark in Leuna die Zeit davon. Dort haben sich 100 Firmen angesiedelt. 12.000 Menschen sind bei ihnen beschäftigt. Die Unternehmen vor Ort produzieren im Verbund. Deswegen kann ein Produktionsausfall, geschweige denn die Insolvenz nur eines Unternehmens, dutzende weitere mit in den Abgrund reißen. „Wenn eine solche Entwicklung einsetzt, ist das ein Dominoeffekt, der dazu führt, dass die chemische Industrie nicht nur in Leuna, sondern im gesamten mitteldeutschen Chemiedreieck in Mitleidenschaft gezogen wird”, erklärt Christof Günther, Geschäftsführer der Infraleuna GmbH.
Die energieintensive Chemiebranche in Ostdeutschland war stark von den russischen Rohstoffquellen abhängig. Die Energiekrise trifft diese Unternehmen daher besonders hart. Nun werden die Hilfeschreie in Leuna immer zahlreicher und immer lauter. Schon vor einem Monat erklärte Christoph Günther: „Wir haben über den Schnitt der Betriebe am Standort aktuell Produktionseinschränkungen von ungefähr 50 Prozent. Wir haben eine Situation, wo die chemische Industrie nicht mehr wirtschaftlich arbeiten kann und wo wir dringend Unterstützung brauchen”. Die Firmen vor Ort sind auf Hilfe durch die Politik angewiesen, „denn es leuchtet jedem ein, dass ein defizitärer Anlagenbetrieb nur sehr begrenzte Zeit aufrechterhalten werden kann.” Thomas Brockmeier, Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer Halle-Dessau, beklagt die hohen Energiepreise: „Wir brauchen aus allen Quellen, derer wir Herr werden können, mehr Energie im Markt. Das ist die wichtigste politische Botschaft zunächst einmal.” Atom und Kohlekraftwerke dürften nicht abgeschaltet werden. Gegebenenfalls solle man sogar auf heimisches Schiefergas setzen. „Wir müssen alles, alles, was wir kriegen können, an den Markt bringen, damit die Preise fallen. Wenn die nicht fallen, ist es nicht zu bezahlen.”
Die Gewerkschaftssprecherin der IGBCE Sylke Teichfuss erklärte gegenüber dem MDR-Sachsen-Anhalt: „Es gibt vereinzelte Unternehmen, die schon die Produktion gedrosselt haben. Aber viele Unternehmen haben entsprechende Pläne in den Taschen. Und wir wollen jetzt verhindern, dass die umgesetzt werden. Wenn die Produktion erstmal stillsteht, ist es zu spät, auf die Straße zu gehen“. Viele Familien in der Region seien verunsichert.
Auch das Netzwerk „CeChemNet“ (European Chemical Network) schlägt nun Alarm. In dem Netzwerk arbeiten die wichtigsten Vertreter der ostdeutschen Chemieparks zusammen. Es repräsentiert 600 Betriebe mit 30.000 Beschäftigten. „Wir dürfen nicht zulassen, dass Errungenschaften der letzten Jahrzehnte durch die aktuelle Krise auf einen Schlag und unwiederbringlich zerstört werden“, warnt „CeChemNet“-Sprecher Jürgen Fuchs.Das Netzwerk fordert, alle Energieträger ans Netz zu bringen beziehungsweise weiter zu betreiben. Außerdem müssten alle Steuern, Umlagen und Abgaben auf die Strom- und Erdgaspreise sofort abgeschafft werden.Doch die Politik ignoriert die Sorgen der Industrie. Im April sollen auch die verbliebenen drei Atomkraftwerke abgeschaltet werden. An die Förderung von Schiefergas oder die Senkung von Steuern scheint die Bundesregierung nicht einmal einen Gedanken zu verschwenden. Und so hängt die Zukunft des Standortes weiterhin am seidenen Faden.