Pleiteticker-Kommentar
Von Sebastian Thormann
In China gehen die Menschen weiter zu tausenden auf die Straße und stellen sich gegen die kommunistische Staatsführung. Auslöser ist die vom Regime inzwischen seit Jahren verfolgte Null-Covid-Lockdownpolitik. Im Westen begrüßen Politiker nun den chinesischen Freiheitsdrang – völlig zurecht. Aber nur zu gerne vergessen dabei viele, dass sie sich noch vor kurzem Chinas freiheitsfeindliche Null-Covid-Politik als Vorbild genommen hatten.
In Shanghai, in Peking, in vielen chinesischen Großstädten protestieren die Bürger gegen die Politik des Regimes der Kommunistischen Partei und Präsident Xi Jinpings. Monate-, jahrelang haben sie die minutiös-totalitäre Corona-Kontrolle ihres Lebens mitgemacht – jetzt ist das Fass zum Überlaufen gekommen. In der zentralchinesischen Metropole Wuhan rufen wütende Demonstranten „Es fing in Wuhan an und es hört in Wuhan auf!”
Den Mut der Demonstranten, die sich offen gegen eines der brutalsten Regime der Welt stellen, kann man nur bewundern. Jeder hat das Tian’anmen-Massaker 1989 im Hinterkopf und weiß, dass es blutig enden kann, wenn man „Wir wollen Freiheit, keine Viruskontrollen” vor versammelten Mengen an Polizisten ruft. Und trotzdem wagen es so viele Chinesen. Von der deutschen Politik kommt jetzt Lob für die Demonstranten und die Kritik an der brutalen chinesischen Lockdown-Politik. Nils Schmid außenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion sagte dpa: „Die Proteste zeigen: Der Drang nach Freiheit ist universell.” FDP-Politiker Alexander Graf Lambsdorff erklärte die chinesische Lockdownpolitik „zum Scheitern verurteilt.” Alles völlig zurecht.
Aber wieso unterstützten viele der Parteien und Politiker vor nicht allzu langer Zeit selbst eine Null-Covid-Politik nach chinesischem Vorbild? Schließlich war es Schmids Parteifreund und jetziger Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach der die Null-Covid-Strategie noch 2021 als „sehr wertvoll und wichtig” bezeichnete. Lambsdorff war einer der FDP-Politiker, der ihre Partei aufforderten, Lockdowns mitzutragen. Man müsse „in einer schwierigen Lage eben auch einschränkende Maßnahmen” beschließen, meinte er ebenfalls 2021. Damals wurden Kritiker hierzulande als „Covidioten” abgestempelt.
Einer der Auslöser der chinesischen Proteste war ein Brand in Urumqi, der Provinzhauptstadt Xinjiangs, wo in einem Feuer in einem Mietshochhaus mehr als 10 Menschen starben. Es heißt, die Feuerwehr konnte erst zweieinhalb Stunden später helfen, u.a. weil das Gebäude zum Lockdown komplett abgeriegelt wurde. In China bedeutet so eine Situation nämlich häufig: Alle Eingangstüren werden versiegelt. Manch einer mag es vergessen haben, aber in Corona-Hochzeiten wurden zum Teil auch hierzulande Wohnhochhäuser abgeriegelt. In Göttingen setzte die Polizei 2020 etwa Pfeffergas ein, auch gegen Kinder, um einen Ausbruch der eingesperrten Bewohner zu verhindern.
An den totalitären Überwachungs- und Kontrollstaat der Kommunistischen Partei Chinas kam unser Corona-Regime zwar nicht heran. Aber wir sollten nicht vergessen, wer hierzulande alles mit dem Modell China liebäugelte als die Krise auf ihrem Höhepunkt war – auch wenn sich einige jetzt zu Freiheitskämpfern stilisieren möchten.